Archiv 2022 - Evangelische Medienzentrale

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Evangelische Medienzentrale Frankfurt

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Film des Monats Dezember

She Said
130 Minuten

Megan Twohey, Reporterin der „New York Times“, hat über Donald Trumps mutmaßliche sexuelle Übergriffe berichtet. Jetzt ist sie in Elternzeit, Trump im Weißen Haus. Die Leiterin des Investigationsteams der „Times“, Rebecca Corbett, hält das Thema nicht für erledigt: Sie setzt Recherchen über sexualisierte Gewalt in Arbeitsverhältnissen auf die Agenda. Und spannt die zurückgekehrte Twohey mit Jodi Kantor zusammen, einer Kollegin, die am „Fall Harvey Weinstein“ arbeitet. Weinstein, Starproduzent und Chef der für Arthouse-Kino berühmten Produktionsfirma Miramax, soll über Jahre gewohnheitsmäßig Frauen der Branche, Schauspielerinnen und Produktionsangestellte, sexuell genötigt haben, bis hin zur Vergewaltigung. Und ebenso gewohnheitsmäßig haben seine Anwälte diese Fälle vertuscht – durch erpresste Geheimhaltungsvereinbarungen.

Megan Twohey und Jodi Kantor bekamen 2018 für ihre Arbeit über Missbrauch an Frauen in abhängigen Arbeitsverhältnissen den Pulitzerpreis; die Weinstein-Enthüllungen waren eine der Initialzündungen für die Kampagne #meToo. Der Film von Maria Schrader schildert minutiös die Recherchen, die zu der bahnbrechenden Veröffentlichung in der „New York Times“ führten: Ein großer Teil des Dialogs ist authentisch, gedreht wurde an realen Orten. „She Said“ knüpft an die aufklärerische Tradition des amerikanischen Reporterfilms an: im Mittelpunkt stehen zwei „Unbestechliche“ im Dienst der Wahrheit. Neu ist die Konsequenz, mit der Schrader dabei einen weiblichen Blick einnimmt. Im Fokus steht die Lebenswirklichkeit der Frauen. Die Arbeit der Journalistinnen ist hochprofessionell, skrupulös und von Empathie getragen. Sie kreist um die Frage: Wie lassen sich ihre Zeuginnen, die auch nach Jahren noch unter den Folgen von Weinsteins Verbrechen leiden, davon überzeugen, an die Öffentlichkeit zu treten? In sorgfältig inszenierten Gesprächen enthüllen sich die traumatischen Erfahrungen der Betroffenen – die weder als hilflose Opfer noch als taffe Hollywoodstars präsentiert werden, sondern als Frauen mit beruflichen Plänen. „She Said“ zeigt auf eindrucksvolle Weise Strukturen sexueller Gewalt am Arbeitsplatz – und dass man etwas dagegen tun kann.

Film-Credits: Schweiz | Frankreich 2021 - Produktion: Dede Gardner, Jeremy Kleiner - Regie: Maria Schrader - Drehbuch: Rebecca Lenkiewicz - Kamera: Natasha Braier - Länge: 130 Minuten - Verleih: Universal Pictures International Germany GmbH Postfach 710848, 60498 Frankfurt/Main, Tel.:+49 069 222 821 0, Fax: +49 069 666 65 09, info@universal-pictures-international-germany.de, www.universal-pictures.de - Kinostart: 08.12.2022

Film des Monats November

Meinen Hass bekommt ihr nicht
102 Minuten

Bei dem Terroranschlag auf den Pariser Club »Bataclan« am 13. November 2015 verliert Antoine seine geliebte Frau Hélène. Unter Schock stehend über die unfassbare Gewalttat, muss er dem siebzehn Monate alten gemeinsamen Sohn Melvil erklären, dass die Mutter nicht mehr zurückkommen wird. Nach Kräften versucht Antoine, den Kleinen im Alltag aufzuheitern, etwa mit lustigen Spielchen, während sie am Küchentisch sitzen und Spaghetti mit Tomatensoße essen. Von Panik ergriffen läuft Antoine einmal halb nackt auf die Straße, weil er glaubt, das Kind sei aus der Wohnung gelaufen. Doch der Kleine hat sich bloß in den Kleiderschrank gesetzt, versteckt unter den Kleidern der Mutter. Ein anderes Mal erleben wir Antoine im öffentlichen Raum, wie er sich selbst dabei ertappt, als er eine Gruppe männlicher Jugendlicher mit arabischen Wurzeln, die an einer U-Bahntreppe beieinanderstehen, argwöhnisch betrachtet. Doch Antoine ist zu reflektiert, um nicht zu wissen, dass die für den Anschlag verantwortlichen islamistischen Extremisten nichts gemeinsam haben mit harmlosen Teenagern, die ebenso friedlich leben wollen wie er. Eines Abends postet Antoine einen Facebookeintrag, der sich millionenfach verbreitet. Er will der Logik des Terrors trotzen, indem er gegen die Attentäter gewandt schreibt: »Meinen Hass bekommt ihr nicht.«

Fünf Jahre nach dem Terroranschlag auf den Pariser Club »Bataclan«, bei dem 130 Menschen ermordet wurden, und der nicht nur Frankreich, sondern Europa und die Welt erschütterte, kommt der Film von Kilian Riedhof in die deutschen Kinos. Meinen Hass bekommt ihr nicht beruht auf dem gleichnamigen autobiografischen Buch des französischen Journalisten und Autors Antoine Leiris. Der Spielfilm schildert, wie der zurückbleibende Ehemann eines der Opfer mit seinem kleinen Sohn wieder in den Alltag zurückfindet, nachdem sein privates Glück durch die Gewalttat jäh zerstört wurde.

Film-Credits: Deutschland, Frankreich, Belgien 2022 - Produktion: Janine Jackowski, Jonas Dornbach, Maren Ade - Regie: Kilian Riedhof - Drehbuch: Jan Braren, Marc Blöbaum, Kilian Riedhof, Stéphanie Kalfon - Kamera: Manuel Dacosse - Länge: 102 Minuten - Verleih: Tobis Film GmbH & Co KG Pacelliallee 47, Berlin Tel.:+49 030 839007-0, Fax: +49 030 -65, info@tobis.de, www.tobis.de - Kinostart: 10.11.2022

Film des Monats Oktober

Nachbarn
124 Minuten

Soldaten ärgern ist ein Spiel, das Sero mit seinem Onkel besonders gern spielt. Sie lassen drei Luftballone in Grün, Gelb und Rot in die Höhe steigen. Umgehend wird das Feuer durch die türkischen Grenzsoldaten auf die Ballone eröffnet. Sero, der sechsjährige Junge, ist Kurde und lebt mit seiner Familie in einem winzigen Dorf in Syrien. An Sabbat zündet er die Kerzen bei der Nachbarsfamilie an. Es gibt keinen Strom und damit auch kein von Sero so ersehntes Fernsehen. Ein neuer Dorflehrer soll den Fortschritt bringen, die Kinder müssen Arabisch lernen und dass Israel der Todfeind ist. Eine Palme als Symbol des arabischen Sozialismus wird gepflanzt. Sie übersteht den Winter ebenso wenig wie der Lehrer.

Die Vielfalt der kleinen Gemeinschaft wird durch die gnadenlose Politik der Türkei und des autoritären Assad-Regimes in die Zange genommen und zerstört. Schließlich gibt es doch Strom, Seros Familie bekommt einen Fernseher, aber zu sehen sind nicht die ersehnten Cartoons, sondern Militärparaden und Bombenexplosionen.

Nachbarn von Mano Khalil erzählt ruhig und fast klassisch eine Kindheit. Meist nehmen wir dabei die Perspektive des kleinen Sero ein, fantastisch gespielt von Serhed Khalil. Mit seinen Augen verlieren wir gleichsam den unschuldigen und neugierigen Blick auf seine Umgebung und verstehen – ohne das Dörfchen verlassen zu müssen –, wie verfahren die Situation in diesem weltpolitischen Krisenherd ist. Der kindliche Blick entlarvt zugleich die hohlen Gesten der Herrschaft und bringt durchaus satirische Momente in die Erzählung. Als zentrales dramaturgisches Element nutzt Khalil die Sprache. Türkisch, Hebräisch, Kurdisch und Arabisch stehen sich so feindlich gegenüber wie Grenzsoldaten. Was als Gemeinschaft gelingen kann und eine Bereicherung des Lebens ist, zeigt insbesondere das Verhältnis zwischen Seros Familie und deren jüdischen Nachbarn. Der staatlich verordnete Antisemitismus in Syrien zerstört aber auch diese Vielfalt.

Erzählt werden diese Kindheitserinnerungen vom erwachsenen Sero, der vierzig Jahre später in einem Flüchtlingslager einer ungewissen Zukunft entgegenblickt. Für ihn bringt die Gegenwart ein überraschendes und bewegendes Wiedersehen. Für die meisten Menschen in Syrien bleibt die Situation im Spiel der autoritären Kräfte jedoch nahezu hoffnungslos. Ein eindrücklicher Film, der im Mikrokosmos eines Dorfes die Dramatik eines fast schon ewigen Krisenherdes sichtbar macht.

Film-Credits: Schweiz | Frankreich 2021 - Produzent | Regie | Drehbuch: Mano Khalil - Kamera: Stéphane Kuthy - Länge: 124 Minuten - Verleih: barnsteiner-film Dorfstr. 15, 24361 Klein Wittensee, Tel.: 04356 996568-0, Fax: 04356 996568-2, dispo@barnsteiner-film.de, www.barnsteiner-film.de - Kinostart: 13.10.2022

Film des Monats September

Hive
84 Minuten

„Hive“ ist das englische Wort für Bienenstock. Beim Bauen der Bienenhäuser sei ihr Mann so glücklich gewesen, sagt Fahrije. Sie hingegen wird trotz des Schutzanzuges, den sie trägt, von den Honigbienen gestochen. Keinen Schutzanzug trägt sie, als sie in der ersten Szene des Films einen der weißen Säcke öffnet, in denen sich die Überreste von Leichen befinden, die das UN-Hilfswerk geborgen hat und die nun von den Angehörigen identifiziert werden sollen. Fahrije lebt mit ihren beiden Kindern und ihrem Schwiegervater in dem Dorf Krusha e Madhe. Während des Kosovo-Krieges verübten serbische Truppen dort im März 1999 ein Massaker an den kosovo-albanischen Dorfbewohnern. Seitdem gilt Fahrijes Mann als vermisst. Sieben Jahre nach dem Ende des Krieges, dem Zeitpunkt, zu dem der Film spielt, wissen die Überlebenden noch immer nicht, was mit ihren Angehörigen geschah.

Der Debutfilm der kosovarischen Regisseurin Blerta Basholli beruht auf wahren Begebenheiten. Er wurde von der Lebensgeschichte von Fahriye Hoti inspiriert. Im Film wird sie von der Schauspielerin Yllka Gashi überzeugend gespielt. Aufrecht und gradlinig, sucht Fahriye trotz des schmerzlichen Verlusts ihres Mannes im Krieg nach einem Neuanfang für sich und ihre Familie. Weil der Honig nicht genug Gewinn abwirft, um die Familie zu ernähren, gründet Fahriye zusammen mit anderen Kriegswitwen eine landwirtschaftliche Genossenschaft. Die Frauen stellen Avjar her, den in der südosteuropäischen Küche beliebten Paprikaaufstrich, der sich im lokalen Supermarkt gut verkauft. Zwar müssen Fahriye und die anderen Frauen sich zunächst gegen allerhand Anfeindungen zur Wehr setzen, die ihnen in dem Dorf mit seinen patriarchalen Traditionen entgegenschlagen. Doch ihr Unternehmen wird schließlich zur Erfolgsgeschichte. Hive ist ein Film, der Mut macht. Er erzählt die Geschichte einer beeindruckenden Frau in einem vom Krieg gezeichneten Land, der es trotz traumatischer Erlebnisse durch eine solidarische Kraftanstrengung gelingt, den Weg in eine selbstbestimmte Zukunft zu finden.

Film-Credits: Kosovo, Albanien, Nordmazedonien, Schweiz 2021 - Produzent: Yll Uka, Valon Bajgora, Agon Uka - Regie, Drehbuch: Blerta Basholli - Kamera: Alex Bloom - Länge: 84 Minuten - Verleih: jip film & verleih gbr Oeder Weg 42, 60318 Frankfurt, Deutschland, Tel.:+49 069 805 322 73, info@jip-film.com, www.jip-film.de - Kinostart: 08.09.2022

Film des Monats August

Evolution
100 Minuten

Nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz reinigen drei Männer eine Gaskammer. Sie entdecken dabei einen lebenden Säugling, Éva. Jahrzehnte später sehen wir Éva, wie sie mit ihrer Tochter Léna darüber streitet, ob sie Entschädigungsleistungen für Überlebende des Holocaust beantragt. Die dritte Episode zeigt Évas Enkel Jónás, der an einer deutschen Schule gemobbt wird und sich in seine muslimische Mitschülerin Yasmina verliebt.

Evolution von Kata Wéber und Kornél Mundruczó besteht aus drei eigenständig inszenierten Episoden. Durch die familiäre Verknüpfung der Figuren thematisiert er die Weitergabe des Traumas des Holocaust ebenso wie die verstörende Kontinuität des Antisemitismus in Deutschland. Die Formen der Inszenierung entlehnt der ungarische Regisseur dem Theater. In einer einzigen Einstellung sehen wir den Männern zu, wie sie versuchen, den Ort des Grauens zu säubern, eine vollkommen erschöpfende, unmögliche Aufgabe. Évas Dialog mit ihrer Tochter Léna beginnt als virtuoses Kammerspiel. Kann man den deutschen Behörden vertrauen, wenn es um Entschädigung, wenn es um den Schutz von Jüdinnen und Juden geht? Muss die Tochter die Geburtsgeschichte der Mutter in Auschwitz erneut anhören? Wie funktioniert Erinnerung, wie ist sie zu ertragen? Konsequent findet der Regisseur hier eine gleichsam surreale Lösung. Die Episode von Jónás und Yasmina schließlich weitet den Blick, zeigt, wie vielschichtig Rassismus und Antisemitismus in unsere Gegenwart hineinreichen. Ein Sankt-Martins-Umzug ist Signatur eines fast hilflosen Bedürfnisses nach Integration. Allein die Gefühle, die die beiden Außenseiter Jónás und Yasmina füreinander empfinden, können als mögliche Hoffnung verstanden werden.

Trauma des Überlebens und Gegenwart des Antisemitismus sind in diesem Film Thema von Verdrängung und mitunter physisch nach außen drängender Verarbeitung. Müssen nachfolgende Generationen sich mit der Geschichte ihrer Eltern und Großeltern auseinandersetzen oder haben sie das Recht auf eine unbeschwerte Kindheit? Können sie ein normales Leben führen angesichts der Kontinuität von Judenfeindlichkeit?

Evolution gibt keine einfache Antwort, sondern konfrontiert uns mit diesen Fragen, die durch zunehmenden Antisemitismus an gesellschaftlicher Aktualität gewinnen. Der Film macht deutlich, was Walter Benjamin meint, wenn er schreibt: »Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.«


Film-Credits: Ungarn / Deutschland 2021 - Produzent: Viola Fügen, Michael Weber, Viktória Petrányi - Regie: Kornél Mundruczó - Drehbuch: Kata Wéber - Kamera: Yorick Le Saux - Länge: 100 Minuten - Verleih: Port au Prince Pictures GmbH Holzmarktstraße 25, 10243 Berlin, Deutschland, Tel.: 030 - 319 555 14, pictures@port-prince.de, www.port-prince.de - Kinostart: 25.08.2022

Film des Monats Juli

Love, Spells and All That (Ask, Büyü Vs.)
96 Minuten

Nach 20 Jahren kehrt Eren, Tochter eines ehemaligen türkischen Parlamentsabgeordneten, aus Paris auf die Insel im Marmarameer zurück, wo sie früher mit ihrer Familie den Urlaub verbrachte. Der Grund für ihre Rückkehr ist ihre ungebrochene und tiefe Liebe zu Reyhan, die sie über viele Jahre in sozialen Medien gesucht und erst jetzt wiedergefunden hat. Reyhan, Tochter des damaligen Hausmeisters der Sommerresidenz von Erens Familie, ist aktuell mit einem Mann liiert. Die beiden Frauen entdecken, dass Reyhans Eltern Erens unzählige Briefe ungelesen zurückgeschickt hatten. Reyhan ist zunächst zögerlich und distanziert, weil sie glaubt, dass Erens Rückkehr einem Liebeszauber zu verdanken ist, den sie vor 20 Jahren auf sie legen ließ. Auf einem gemeinsamen Ausflug über die Insel wollen die beiden Frauen den Liebeszauber ungeschehen machen. Unterwegs begegnen sie streunenden Katzen, kuriosen Menschen und wandern durch malerisch blühende Landschaften, erinnern sich aber auch an ihre leidenschaftliche, jedoch verbotene Liebesbeziehung, die entdeckt und gewaltsam unterbunden wurde. Geschickt werden entscheidende Passagen aus den vorenthaltenen Briefen aus dem „Off“ gesprochen und offenbaren, was damals geschah. In ihren Gesprächen arbeiten Reyhan und Eren dies auf und kommen sich wieder näher.

Die Evangelische Filmjury empfiehlt den Film, weil der Film sichtbar macht, wie sehr Homosexualität in der Türkei immer noch ein gesellschaftlich kontrovers wahrgenommenes Thema ist. Obwohl Homosexualität offiziell legal ist, sind LGTBQ*-Personen immer noch sozialer Ächtung ausgesetzt. Dem Regisseur Ümit Ünal ist mit „Love, Spells And All That“ trotz des brisanten Themas ein atmosphärischer und durch die schauspielerische Leistung der beiden Hauptdarstellerinnen überzeugender Film über eine vergangene, aber auch wieder entflammende lesbische Sommerliebe gelungen.

Film-Credits: Türkei 2019 - Produzent, Regie, Drehbuch: Ümit Ünal - Kamera: Türksoy Gölebeyi - Länge: 96 Minuten - Verleih: CINEMIEN Deutschland Hochstraße 17, 60313 Frankfurt, Deutschland, cinemien.de - Kinostart: 14.07.2022

Film des Monats Juni

France
130 Minuten

France de Meurs ist ein Star des französischen Fernsehens. Als Kriegsreporterin ist sie in den Krisengebieten dieser Welt unterwegs, immer höchstpersönlich nah dran am Geschehen. In ihrer eigenen Show präsentiert sie ihre Reportagen, interviewt die maßgeblichen Personen des öffentlichen Lebens und erreicht die besten Quoten, indem sie sich selbst zur Marke ausbaut. Keinen Schritt kann sie tun, ohne dass jemand um ein gemeinsames Selfie bittet. France de Meurs ist schön, immer in Nahaufnahme, immer in Haute Couture, immer perfekt – bis eines Tages ein Unfall passiert, und sie in einen langsamen Strudel aus Selbstzweifel und Depression gerät.

Regisseur Bruno Dumont hat eine kunstvolle Mischung aus Satire, Drama und Komödie geschaffen, bei der Form und Inhalt auf perfekte Weise miteinander korrespondieren. Die Kamera ist seiner Hauptdarstellerin Léa Seydoux ständig auf den Fersen. In sorgfältig komponierten Szenen entlarvt er nicht nur den Narzissmus der medialen Öffentlichkeit, sondern ganz nebenbei auch die Verlogenheit des modernen Emanzipationsversprechens: Wenn etwa France dafür sorgt, dass ihr nicht ganz so erfolgreicher schreibender Gatte aus Gefälligkeit auch mal im Fernsehen interviewt wird. Oder wenn sie in der Nobel-Klinik in den Alpen von einer geschwätzigen Liegestuhl-Nachbarin auf eine andere prominente Patientin aufmerksam gemacht wird – die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin, deren Name der Dauerplauderin aber gerade nicht einfällt.

Der skurrile Witz vieler Szenen macht den Film unterhaltsam, entzieht der Botschaft aber an keiner Stelle die Ernsthaftigkeit. Denn selbstverständlich ist es kein Zufall, dass France genauso heißt wie jenes Land, das wie kein anderes für Demokratie und Aufklärung steht. France ist das Gesicht einer Kultur, die sich in so viele innere Widersprüche verwickelt hat, dass kaum vorstellbar ist, wie sie da wieder herauskommen soll. Und doch bleibt es am Ende nicht ganz hoffnungslos, für France de Meurs nicht und auch nicht für das Projekt der westlichen Moderne, dessen Allegorie sie ist.

Film-Credits: Frankreich, Deutschland, Belgien, Italien 2021 - Produzent: Jean Bréhat, Muriel Merlin, Rachid Bouchareb - Regie, Drehbuch: Bruno Dumont - Kamera: David Chambille - Länge: 130 Minuten - Verleih: MFA+ Filmdistribution e.K. Bismarckplatz 9, Regensburg Tel.:+49 0941 586 24 62, Fax: +49 0941 586 17 92, info@mfa-film.de, www.mfa-film.de - Kinostart: 09.06.2022

Film des Monats Mai

Maixabel – Eine Geschichte von Liebe, Zorn und Hoffnung (Maixabel)
130 Minuten

Das Telefon klingelt ohne Unterlass, laut und drängend. Maixabel hört es zunächst nicht – der Haarföhn übertönt das schrille Geräusch. Plötzlich hält sie inne, auf ihrem Gesicht breitet sich eine Furcht aus, die kurz darauf zur Gewissheit wird. Ihr Ehemann ist ermordet worden, kaltblütig in den Kopf geschossen. Auch Tochter María, die gerade ihren Geburtstag mit Freundinnen feiert, weiß sofort, dass etwas Schreckliches geschehen ist, als sie ihre Tante auf sich zulaufen sieht. Ein Anschlag der spanischen Untergrundorganisation ETA, wie sich schnell herausstellt. Den drei Attentätern gelingt zunächst die Flucht, doch vier Jahre später müssen sie sich vor Gericht verantworten. Von Reue keine Spur.

Jahre später spricht Maixabel auf einer Gedenkfeier für Opfer des Terrorismus. Sie engagiert sich für ein Gedenken an alle Opfer – die der ETA, die Opfer von Gewaltverbrechen durch die »Antiterroristische Befreiungsgruppe GAL« sowie die Opfer anderer gewalttätiger Gruppen. Damit werde sie noch ungeahnte Kritik einstecken müssen, warnt ihre Tochter: »Das wird keinem gefallen.« Auch dass sie sich mit ETA-Attentätern treffen will, ruft Unverständnis und Ablehnung hervor. Währenddessen stoßen die Täter Ibon und Luis in einem Gefängnis zufällig aufeinander. Beide ringen auf unterschiedliche Weise mit sich und ihren Taten. Luis entschließt sich zu einem Täter-Opfer-Gespräch. Für Maixabel wird die Begegnung zu einer Befreiung. Auch Ibon sucht schließlich den Kontakt zu ihr.

Die Regisseurin Icíar Bollaín greift mit ihrem auf wahren Ereignissen beruhenden Film einen Teil spanischer Geschichte auf, erzählt von Wut, Trauer, Verblendung, Schuld, aber auch Reue und Verantwortung. Sie stellt Menschen mit all ihren Verletzungen und ihrem individuellen Umgang mit Vergangenheitsbewältigung in den Mittelpunkt. Jenseits davon stellt Bollaín mit ihrem Film die Frage, wie Opfer von Gewalterfahrungen mit ihren Erlebnissen umgehen, wie sie Täter*innen begegnen wollen oder können. Deutlich zeigt sie dabei, dass Versöhnung Arbeit ist für diejenigen, die sich darauf einlassen.

Film-Credits: Georgien/Deutschland 2021 - Produzent: Guadalupe Balaguer Trelles, Juan Moreno, Guillermo Sempere, Koldo Zuazua - Regie: Icíar Bollaín - Drehbuch: Isa Campo, Icíar Bollaín - Schnitt: Nacho Ruiz Capillas - Länge: 130 Minuten - Verleih: Piffl Medien GmbH Boxhagener Str. 18, Berlin Tel.:+49 030 293616-0, Fax: +49 030 293616-22, office@pifflmedien.de, http://www.pifflmedien.de - Kinostart: 26.05.2022

Film des Monats April

Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? (Ras vkhedavt, rodesac cas vukurebt?)
150 Minuten

Es war einmal in der Stadt Kutaissi in Georgien. Morgens auf dem Weg zur Arbeit begegnen sich die Apothekerin und Medizinstudentin Lisa (Oliko Barbakadse) und der Profi-Fußballer Giorgi (Giorgi Ambroladse), und abends auf dem Heimweg gleich nochmal. Das kann kein Zufall sein! Sie verabreden sich für den nächsten Abend zu einem Date im Straßencafé, aber dann trifft sie über Nacht ein Fluch: Am Morgen erwachen beide mit verändertem Aussehen – und können sich nicht mehr erkennen. Wochenlang suchen sie einander, während sich Kutaissi auf die bevorstehende Fußballweltmeisterschaft vorbereitet. Kneipenwirte stellen Leinwände auf, selbst die Hunde suchen und finden ein gutes Plätzchen für sich. Aber Lisa und Giorgi (jetzt gespielt von Ani Karseladse und Giorgi Bochorishvili) müssen sich völlig neu orientieren. Gibt es für sie ein Happy End?

In epischer Länge – der Film dauert 150 Minuten – erzählt der 1984 in Tiflis geborene Regisseur Alexandre Koberidse ein Kinomärchen über Liebe und Sehnsucht. Seine Figuren sprechen nur wenig, das Drama spielt sich ganz in ihrem Inneren ab. Und wie im Märchen üblich ist es ein allwissender Erzähler, der den Zuschauer*innen das Geschehen nahebringt. Bei vielen musikalisch unterlegten Szenen fühlt man sich zuweilen in die Stummfilmära zurückversetzt. Und auch die großartigen Bilder von Kameramann Faraz Fesharaki tragen dazu bei, dass der Film einen regelrechten Sog entwickelt. Hier werden inhaltlich wie formal die Möglichkeiten der Kunstform Kino ausgespielt.

Alexandre Koberidse hat den Film, für den er auch das Drehbuch geschrieben hat, als Abschlussarbeit für die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin gedreht. Er bringt den deutschen Zuschauer*innen darin auch das Alltagsleben in Georgien näher, einem ehemals zur Sowjetunion gehörenden Land im Südkaukasus, das ähnlich wie andere ehemalige Sowjetrepubliken von häufigen Regierungskrisen geplagt ist und keinen leichten Weg zu einem von Russland unabhängigen, souveränen demokratischen Staat geht.

Film-Credits: Georgien/Deutschland 2021 - Produzent: Mariam Shatberashvili, Anna Dziapshipa, Ketevan Kipiani, Luise Hauschild - Regie: Alexandre Koberidze - Drehbuch: Alexandre Koberidze - Schnitt: Alexandre Koberidze - Länge: 150 Minuten - Verleih: Grandfilm Muggenhofer Str. 132d, Bau 74, 90429 Nürnberg, Tel.:+49 0911 810 96 671, verleih@grandfilm.de, www.grandfilm.de - Kinostart:07.04.2021

Film des Monats März

DCM

Come on, Come on (C'mon C'mon)
108 Minuten

In einer Szene gehen Johnny (Joaquin Phoenix) und sein neunjähriger Neffe Jesse (Woody Norman) unter einem der monumentalen Eichenbäume von New Orleans entlang, dessen weit auslaufend geschwungene Äste sich wie ein Dach über die beiden spannen. Zwei winzige Lebewesen im Kontrast zu dem jahrhundertealten Baum: der erwachsene Mann und der kleine Junge. Ein archetypisches Bild, wie eine flüchtige Momentaufnahme aus dem Zyklus des Lebens. Johnny ist Radiojournalist und befragt Jugendliche aus vier großen amerikanischen Städten – Detroit, Los Angeles, New York, New Orleans –, was sie von der Zukunft erwarten. Seinen Neffen nimmt er auf die Reise mit, da dessen Mutter sich um den psychisch kranken Vater des Jungen kümmern muss. Zwischen dem im Umgang mit Kindern unerfahrenen Onkel und dem aufgeweckten Jungen entsteht eine innige Beziehung.

Ausgangspunkt seines Films seien die Erfahrungen und Gespräche mit seinem eigenen Sohn gewesen, berichtet Regisseur Mike Mills (Jahrhundertfrauen). Den Blick auf das Private, auf menschliche Beziehungen, die emotional berühren, habe er verbinden wollen mit den großen Zukunftsfragen, nach dem Zustand der heutigen Welt und der amerikanischen Gesellschaft. Daher die dokumentarischen Interviews mit Jugendlichen und ihre Sicht auf die Zukunft, die die Filmhandlung rahmen und denen er Respekt zollt. Lose verbinden sie sich mit der Handlung, denn sie sollen eigenständig sein und kein Vehikel für die Fiktion. "Come on, Come on" wirkt wie eine Collage, in deren Zwischenräumen sich intellektueller und spiritueller Sinn findet. Das Schwarz-Weiß der Bilder schafft den stimmungsvollen Raum einer Fabel, jenseits der Realität. Durch den Soundtrack von Aaron und Bryce Dessner und die wehmütige Stimme der Sängerin Leslie Feist wird er konturiert. Mit seiner Geschichte vom Kind und dem Erwachsenen entwirft der Film ein unprätentiöses zeitgenössisches Bild menschlicher Bindung und lässt in den kleinen, unscheinbaren Momenten erfahrenes Lebensglück aufscheinen.

Film-Credits: USA 2021 - Produzent: Chelsea Barnard, Andrea Longacre-White, Lila Yacoub - Regie: Mike Mills - Drehbuch: Mike Mills - Schnitt: Jennifer Vecchiarello - Länge: 108 Minuten - Verleih: DCM Schönhauser Allee 8, 10119 Berlin, Tel.:+49 030 88 59 74 0, Fax: +49 030 88 59 74 15, what@dcmteam.com, www.dcmworld.com - Kinostart:24.3.2022

Film des Monats Februar

Die Odyssee (L' traversée)
84 Minuten

Wie kann die Lebensgeschichte von Kindern erzählt werden, die paramilitärische Gewalt erleben, Verfolgungen ausgesetzt sind, flüchten müssen und Menschenhandel erfahren? Der abendfüllende Animationsfilm "Die Odyssee" versucht in einer ungewöhnlichen Öl-auf-Glas-Animationstechnik eine Annäherung. In einem Skizzenbuch hat die jetzt erwachsene Kyona einen Teil ihrer Kindheit festgehalten. Sie blättert es für die Zuschauer*innen auf und erzählt von einer dramatischen und wechselvollen Odyssee, die in ihrem idyllischen Heimatdorf irgendwo in Europa beginnt. Als das Dorf von einer neuen Macht überfallen und verwüstet wird, fliehen Kyona und ihr Bruder Adriel mit den Eltern und dem Baby. Unterwegs werden die Geschwister von den Eltern getrennt und müssen sich nun allein durchschlagen. Kyona und Adriel lernen auf ihrer traumatischen Reise gefährliche, aber auch hilfsbereite Menschen kennen. Aber immer wieder ergeben sich neue bedrohliche Situationen, die die beiden zwingen, weiter zu ziehen mit dem Ziel, in einen freien Staat ohne Verfolgung zu gelangen; ganz so, wie es die Eltern ursprünglich für die gesamte Familie geplant hatten.

Dem Film gelingt es, in märchenhafter Bildsprache hochaktuelle und schwere Themen wie Flucht, Vertreibung, Menschenhandel und Gewalt aus der Perspektive von Kindern zu erzählen. Die Öl-auf-Glas-Animationstechnik ermöglicht ein Wechselspiel von Fantasie und Realität: Auf das angstvolle Gesicht Kyonas folgt etwa das nächste Ziel der Odyssee. Die Namen und Handlungsorte sind frei erfunden, doch weiß jede*r Zuschauer*in, was und wer gemeint sein könnte. Der Film erzählt aber auch die alptraumhafte Geschichte von Kindern, die durch das Erlebte viel zu schnell erwachsen werden müssen. Mit seiner Erzählweise und der speziellen Animationstechnik wird "Die Odyssee" den geschilderten, harten Kinderschicksalen gerecht. Aufgrund seiner Farbbrillanz und Raffinesse hinterlässt er zudem starke Emotionen beim Publikum.

Film-Credits: Frankreich/Deutschland/Tschechien 2020 - Produzent: Dora Benousilio, Ralf Kukula, Alena Vandasová, Martin Vandas, Luc Camilli - Regie: Florence Miailhe - Drehbuch: Marie Desplechin, Florence Miailhe - Schnitt: Julie Dupré, Nassim Gordji Tehrani - Länge: 84 Minuten - Verleih: Grandfilm Muggenhofer Str. 132d, Bau 74, 90429 Nürnberg, Tel.:+49 0911 810 96 671, verleih@grandfilm.de, www.grandfilm.de - Kinostart:28.4.2022

Film des Monats Januar

Parallele Mütter
123 Minuten

Wieder sind es die Mütter, die bei Pedro Almodovars im Mittelpunkt stehen. „Parallele Mütter“ erzählt von zwei Frauen aus unterschiedlichen Generationen. Janis ist eine erfolgreiche Fotografin Ende dreißig, die ungeplant schwanger wird und ihre Schwangerschaft aus vollstem Herzen bejaht. Die 17-jährige Ana, selbst fast noch ein Kind, erlebt ihre Schwangerschaft hingegen mit gemischten Gefühlen. Von einer Gruppe junger Männer wurde sie zum Sex gezwungen, sie weiß nicht, wer der Vater ihres Kindes ist. Ihre eigene Mutter, eine selbstbezügliche Schauspielerin, die dem Erfolg hinterherjagt, bietet ihr kaum Unterstützung. Ana und Janis begegnen sich auf der Entbindungsstation. Mit der Geburt der Töchter verweben sich die Schicksalsfäden der beiden Frauen. Dass ihre Tochter weder dem Kindsvater, noch ihr selbst ähnlichsieht, veranlasst Janis, mittels eines DNA-Test prüfen zu lassen, wer die biologische Mutter ist.

Ein Stoff, wie gemacht für das Melodram oder eine veritable Seifenoper, von Pedro Almodovar so gekonnt und stilistisch eindrucksvoll inszeniert, dass es ein wahrer Genuss ist. Doch in „Parallele Mütter“ geht es um mehr. Janis hat ein familiengeschichtliches Anliegen. Ihr Urgroßvater wurde, wie Hundertausende Menschen, während des Spanischen Bürgerkriegs von den Falangisten um General Franco erschossen. Janis möchte, dass der forensische Anthropologe Arturo das Massengrab in ihrem Heimatdorf ausheben und die dort vermuteten Überreste der ermordeten Männer identifizieren lässt. Während die junge Ana meint, man solle die Vergangenheit ruhen lassen, will Janis den Geburtsfehler des heutigen demokratischen Spaniens korrigieren: sie will das auch nach dem Tod Francos im Jahre 1975 fortgesetzte Schweigen über die Verbrechen der Falangisten brechen. Damit greift Almodovar ein höchst aktuelles Thema auf, ist doch Spanien derzeit damit beschäftigt, die vielen namenlosen Gräber aus der Zeit des Bürgerkriegs zu öffnen, um den Hinterbliebenen späte Genugtuung zu verschaffen und das Geschichtsbewusstsein des Landes zu erneuern.

Film-Credits: Spanien 2021 - Produzent: Agustín Almodóvar, Esther García - Regie: Pedro Almodóvar - Drehbuch: Pedro Almodóvar - Kamera: José Luis Alcaine - Schnitt: Teresa Font - Länge: 123 Minuten - Verleih: StudioCanal GmbH Neue Promenade 4, 10178 Berlin, Tel.:+49 030 81 09 69-0 , info@studiocanal.de, www.studiocanal.de - Kinostart:03.03.2022

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