Film des Monats Dezember

Shoplifters - Familienbande
121 Minuten
Irgendwo am Rande von Tokio, da, wo die Häuser winzig und zerbrechlich sind, wohnt die Familie Shibata. Die Mutter arbeitet in einer Wäscherei, ihre Schwester in einem Stripclub, Großmutter hat eine kleine Rente. Vater Osamu und der Sohn Shota stocken das Einkommen durch Shoplifting, Ladendiebstahl, auf. Bei einem ihrer Streifzüge bemerken die beiden auf einem Balkon in einem Hinterhof ein frierendes, trauriges Mädchen. In einer fürsorglichen Aufwallung nehmen sie die Kleine mit nach Hause – zunächst nur, um ihr ein warmes Essen zu spendieren. Doch bald fällt auf, dass Yuri misshandelt wurde, und obwohl die Shibatas annehmen müssen, dass nach ihr gesucht wird, bringen sie es nicht übers Herz, sie zurückzubringen. Aus einer Mahlzeit werden viele. Yuri wächst allmählich in ein neues Leben hinein – ein Leben, das trotz Armut, trotz innerer Konflikte und äußerem Druck glücklich zu sein scheint.
Die Familie in ihrem historischen Wandel ist immer eines der großen Themen des japanischen Kinos gewesen, und der renommierte Autorenfilmer Hirokazu Kore-eda setzt diese Tradition eindrucksvoll fort. In „Shoplifters“, der in Cannes die Goldene Palme gewann, entwirft er, an der Grenze des klassischen Sozialrealismus, ein besonders komplexes, für den Zuschauer bis fast zum Ende geheimnisvolles Beziehungs-Patchwork. Was hier Familie konstituiert, sind nicht die biologischen Verhältnisse, die „Blutsbande“. Es muss aber etwas sehr Haltbares sein, denn die prekäre soziale Situation, der tägliche Stress bei der Beschaffung des Notwendigsten – Instantsuppen, Reisknödel, ein paar Orangen - zwingen die Shibatas nicht in die Knie. Im Gegenteil: Die Beziehungen, die Erwachsene und Kinder miteinander und untereinander knüpfen, wachsen im Verlauf der Geschichte. Sie gründen sich auf freiwillige Bindung, auf Empathie und Solidarität. Und so entfaltet sich ein utopisches Moment, eine faszinierend umfassende Vorstellung von „Verwandtschaft“: In ihrer Offenheit kann die Familie in „Shoplifters“ zu einem Vorbild für Gesellschaft werden.
Film-Credits: Japan 2018 - Produzent: Matsuzaki Kaoru, Yose Akihiko, Taguchi Hijiri - Regie: Hirokazu Kore-eda - Drehbuch: Hirokazu Kore-eda - Kamera: Kondo Ryuto - Schnitt: Hirokazu Kore-eda - Musik: Haruomi Hosono - Darsteller: Lily Franky (Osamu Shibata), Sakura Ando (Nobuyo Shibata), Mayu Matsuoka (Aki Shibata), Sosuke Ikematsu (4 ban-san) - Format: DCP 121 Minuten - Verleih: - Preise: 2018: Internationale Filmfestspiele von Cannes – Goldene Palme 2018: Filmfest München – ARRI/Osram Award - Kinostart: 27.12.2018
Film des Monats November

Die Erbinnen (Las Herederas)
95 Minuten
Chela und Chiquita leben im paraguyanischen Asunción und sind seit Jahrzehnten ein Paar – eine Tatsache, die sie immer noch vor ihren Freundinnen zu verbergen suchen. Die beiden kommen aus der Oberschicht, gearbeitet haben sie nie. Wohlhabend sind sie allerdings nicht – gerade verkaufen sie das Inventar der alten Familienvilla, Stücke, an denen vor allem für Chela Erinnerungen haften. Die Beziehung der Frauen folgt einem klassischen Muster. Chiquita ist dominant, gibt sich taff und weiß stets, was zu tun ist. Chela dagegen kämpft mit einer Depression: Sie findet morgens kaum aus dem Bett und verbringt die Tage eher meditierend als malend vor einer kleinen Staffelei. Als die schwer verschuldete Chiquita in Untersuchungshaft muss, kommt Bewegung in die erstarrte Partnerschaft. Obwohl sie keinen Führerschein hat, lässt Chela sich überreden, ihre Freundinnen gegen Geld durch die Stadt zu kutschieren. Allmählich gewinnt sie an Selbstvertrauen. Und damit erwacht auch etwas anderes wieder: erotisches Begehren.
Im letzten Jahr, mit Filmen wie „Call Me By Your Name“ oder der Studioproduktion „Love, Simon“, hat der homosexuelle Mann im Kino-Mainstream Anker geworfen. Lesben, schon gar, wenn sie aufs Rentenalter zugehen, sind im Publikumsfilm nach wie vor kaum sichtbar. „Die Erbinnen“, geschrieben und inszeniert von Marcelo Martinessi, annonciert sein „ungewöhnliches“ Sujet allerdings nicht. Eher hintergründig, nah an den Gesichtern und Körpern der großartigen Hauptdarstellerinnen entfaltet der Film die Beziehung zweier Frauen, die nicht nur von altem Mobiliar umgeben, sondern in jeder Hinsicht in ererbten Strukturen gefangen sind - in sexuellen und sozialen Konventionen, in ökonomischen Zwängen. Und Männer müssen in Martinessis Film gar nicht anwesend sein, um Druck auf das Netzwerk auszuüben, das Bekannte, Verwandte und Freundinnen im Hintergrund der Haupthandlung spinnen. Sozialpsychologisch genau und empathisch im Detail ist „Die Erbinnen“ das geglückte Beispiel eines modernen, realistischen Frauenfilms.
Film-Credits: Paraguay, Deutschland, Uruguay, Norwegen, Brasilien, Frankreich 2018 - Produzent: Sebastián Peña Escobar, Marcelo Martinessi - Regie: Marcelo Martinessi - Drehbuch: Marcelo Martinessi - Kamera: Luis Armando Arteaga - Schnitt: Fernando Epstein - Darsteller: Ana Brun (Chela), Margarita Irún (Chiquita), Ana Ivanova (Angy), Nilda Gonzalez (Pati) - Verleih: Grandfilm; Muggenhofer Str. 132d, Bau 74, 90429 Nürnberg, Tel.:+49 0911 810 96 671, verleih@grandfilm.de, www.grandfilm.de - Preise: 2018: Internationale Filmfestspiele Berlin – Alfred-Bauer-Preis (Marcelo Martinessi), Silberner Bär (Beste Darstellerin – Ana Brun), FIPRESCI-Preis und Preis der Teddy-Leserjury des Mannschaft-Magazins 2018: Cartagena Film Festival – Beste Regie, FIPRESCI-Preis 2018: Filmfestival von Gramado – Bester lateinamerikanischer Film, Beste lateinamerikanische Regie, Beste lateinamerikanische Darstellerinnen (Ana Brun, Margarita Irún, Ana Ivanova), Bestes lateinamerikanisches Drehbuch, Publikumspreis – Bester lateinamerikanischer Film 2018: Jeonju Film Festival – Bester Film 2018: Lima Latin American Film Festival – Beste Darstellerin (Ana Brun) 2018: San Sebastián International Film Festival – Bester lateinamerikanischer Film 2018: Santiago International Film Festival – Beste Regie 2018: Seattle International Film Festival – Lobende Erwähnung (Marcelo Martinessi) 2018: Sydney Film Festival – Bester Film 2018: Transilvania International Film Festival – Bester Film 2018: World Cinema Amsterdam – Bester Film - FSK: ab 12
Film des Monats Oktober

Die defekte Katze
93 Minuten
Wie führt man eine Ehe, wenn man sich kaum kennt? Mina und Kian sind nicht aus Liebe zusammengekommen, sondern weil sie beide heiraten wollten. Nachdem Tinder und andere Wege nicht funktionierten, haben sie sich auf eine arrangierte Ehe eingelassen. Mina ist Elektrotechnikerin und lebte bisher im Iran, Kian ist Arzt und als Sohn iranischer Eltern in Deutschland aufgewachsen. Mit besten Absichten starten die beiden in ihr neues Leben als Ehepaar in einer typisch deutschen Dreizimmerwohnung. Aber wie hat man Sex mit einem völlig Fremden? Wie bleibt man gelassen, wenn die andere plötzlich eine grauenhafte Katze anschafft? Zumal erschwerend hinzukommt, dass Mina sich erst noch einleben muss; sie kennt niemanden, kann die Sprache nicht, und ihr Berufsabschluss wird nicht anerkannt. Kian wiederum weiß nicht so recht, was von ihm erwartet wird und schwankt zwischen verschiedenen Vorstellungen von Männlichkeit. Umgeben von den Ansprüchen anderer und stereotypen Vorstellungen davon, wie Liebe und Ehe zu sein haben, scheint das Projekt zum Scheitern verurteilt.
Die deutsche Regisseurin Susan Gordanshekan, die selbst iranische Eltern hat, beobachtet ihre Hauptfiguren – die von Pegah Ferydoni und Hadi Khanjanpour überzeugend dargestellt werden – differenziert und genau. Sie wirft einen frischen Blick auf das Thema Paarbeziehung und Migration. Es gelingt ihr in ihrem Spielfilmdebüt, mit erwartbaren Klischees nur zu spielen und immer wieder überraschende Wendungen für die Handlung zu finden. Typische Probleme von Migration und interkulturellen Missverständnissen werden in zahlreichen kleinen Details gezeigt, sie überstrahlen aber nie die Individualität der Personen und ihrer jeweiligen Entscheidungen. Daher ist Die defekte Katze auch eher ein Liebesfilm als ein Migrationsfilm – obwohl man als Zuschauer/in ohne eigene Migrationserfahrung auch darüber eine ganze Menge lernen kann.
Film-Credits: Deutschland 2018 - Produzent: Ralf Zimmermann, Caroline Fischer - Regie: Susan Gordanshekan - Drehbuch: Susan Gordanshekan - Kamera: Julian Krubasik - Schnitt: Frank Müller - Musik: Sebastian Fillenberg - Darsteller: Pegah Ferydoni (Mina), Hadi Khanjanpour (Kian), Constantin von Jascherof (Lars), Henrike von Kuick (Sophie), Arash Marandi (Masoud) - 93 Minuten - Verleih: ALPENREPUBLIK GMBH; Ickstattstraße 12, 80469 München, Deutschland, Tel.:+49 89 30 90 679 40, Fax: +49 89 30 90 679 11, cho@alpenrepublik.eu; www.alpenrepublik.eu/ - Kinostart: 04.10.2018
Film des Monats September

Styx (Styx)
94 Minuten
Rike ist Anfang vierzig und arbeitet als Notärztin in Köln - ein harter Job. Ihr Urlaubsplan verspricht auch nicht gerade Entspannung pur: Sie will von Gibraltar nach Ascension segeln, eine Insel im Südatlantik, auf der Charles Darwin ein legendäres Bepflanzungsprojekt initiiert hat. Tausende von Kilometern auf dem rauen Meer, allein in einer Zwölf-Meter-Yacht? Rike glaubt zu wissen, was sie sich zumuten kann: Sie ist fit, eine gewiefte Seglerin, und sie hat sich umsichtig ausgerüstet. Selbst als sie vor der afrikanischen Küste in einen schweren Sturm gerät, sitzt bei ihr jeder Handgriff. Doch dann entdeckt sie einen havarierten Kutter, auf dem mehr als hundert geschwächte Flüchtende um ihr Leben flehen; einige springen ins Wasser, als sie die Yacht erblicken. Die Küstenwache weist Rike an, sich zurückzuziehen. Aber als Ärztin kann und will sie nicht wegsehen. Ohnehin hat einer der Flüchtenden, ein Junge, bereits ihr Schiff erreicht.
Abenteuerfilm, Thriller, Dokudrama? Wolfgang Fischers "Styx" hat von allem etwas. Schließlich treffen in seinem Szenario höchst unterschiedliche Sphären aufeinander. Die Protagonistin (Susanne Wolff) ist verantwortungsvoll und wirkt sympathisch in ihrem Drang zu helfen. Doch sie repräsentiert ein saturiertes Europa, dessen Bürger selbst bestimmen können, welchen Lebensrisiken sie sich aussetzen: Ihre "Abenteuer" sind allemal abgesichert. Die Menschen auf dem sinkenden Boot haben keine Wahl. Auf der Flucht vor Armut und Zwang liefern sie sich nicht nur den Elementen aus, sondern vor allem der Politik, denen, die darüber entscheiden, wem wann geholfen wird. Angesichts der inhumanen Tendenzen unserer Migrationsdebatte und der beständig steigenden Zahl der Opfer im Mittelmeer gewinnt der auf der diesjährigen Berlinale vorgestellte Film eine furchtbare Dringlichkeit. Seine Stärke liegt darin, wie er das Thema kammerspielartig in einer Extremsituation verdichtet und zugleich den Blick weitet: auf die grundlegende Ungleichheit im Verhältnis von Nord und Süd. In Ascension hätte Rike nicht nur Darwins blühendes Biotop gefunden, sondern auch englische und amerikanische Militärbasen.
Film-Credits: Deutschland, Österreich 2018 - Produzent: Marcos Kantis, Martin Lehwald, Michal Pokorny, Alexander Dumreicher-Ivanceanu, Bady Minck - Regie: Wolfgang Fischer - Drehbuch: Wolfgang Fischer, Ika Künzel - Kamera: Benedict Neuenfels - Schnitt: Monika Willi - Darsteller: Susanne Wolff (Rike), Gedion Oduor Wekesa (Kingsley) - Format: DCP 94 Minuten - Verleih: Zorro Film GmbH, Astallerstr. 23, 80339 München, Tel.:+49 89 452 352 923, Fax: +49 89 452 352 911, info@zorrofilm.de, www.zorrofilm.de - Preise: Berlinale 2018: Preis der Ökumenischen Jury, Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern 2018 Hauptpreis Fliegender Ochse und Publikumspreis, Valletta Film Festival 2018: Best Performance (Susanne Wolff) und Best Cinematographer - FSK: ab 0 - Kinostart: 13.09.2018
Film des Monats August

Fridas Sommer (Estiu 1993)
96 Minuten
Als Fridas Mutter stirbt, ist das Mädchen sechs Jahre alt. Das Großstadtkind, das nun keine leiblichen Eltern mehr hat, soll künftig bei dem Onkel und dessen Frau leben. Die beiden leben mit ihrer kleinen Tochter Anna im dicht bewaldeten katalonischen Bergland. Dort betreibt der Onkel eine Schreinerei, das nächste Städtchen ist ein paar Kilometer entfernt. Die Verarbeitung des Verlusts der Eltern verläuft für Frida nicht ohne Rückschläge. Nur mühsam findet die neue Familienkonstellation zueinander. Die Geduld der neuen Bezugspersonen wird immer wieder auf die Probe gestellt. Fridas Bemühungen, ihren Platz in der neuen Familie zu finden, sind nicht immer sympathisch, mitunter ist sie harsch und zurückweisend. Vor allem die kleine Anna bekommt das zu spüren. In einer Szene lässt Frida die Stiefschwester im Wald zurück, einmal will sie selbst weglaufen, kehrt aber trotzig zurück, weil es ihr zu dunkel ist. Die Rollenspiele der beiden Mädchen machen sichtbar, um was es geht, welche Ängste und Fragen Frida beschäftigen. Die Empathie ihres Umfelds, die Fröhlichkeit der kleinen Schwester und Fridas eigene Neugier und Energie machen einen Neuanfang möglich.
Das Besondere an Carla Simóns erstem Langspielfilm besteht darin, wie unmittelbar sich die spanische Regisseurin auf die kindliche Erlebniswelt ihrer Protagonistin und deren jüngerer Spielgefährtin einzulassen versteht. Geduldig und zurückhaltend schildert der Film Fridas ersten Sommer in der neuen Umgebung. Die Kamera bleibt nah bei Frida, erst im Verlauf der Handlung weitet sich der Blick für die Umgebung, das Haus, die Landschaft, die Familie. Sie begleitet das eindrucksvoll gespielte Mädchen bei seiner Eingewöhnung in die neue Umgebung, bei den intensiven Konflikten, die es mit seinen neuen Bezugspersonen erlebt, und der allmählichen Verarbeitung des Geschehenen. Die Zeit, die sich der Film nimmt, macht diese Entwicklung glaubwürdig. Wenn Frida am Ende in den Armen ihrer neuen Eltern bitterlich weint, dann ist dies nichts anderes als ein Happy End.
Film-Credits: Spanien 2016 - Produzent: Valérie Delpierre, Stefan Schmitz, María Zamora - Regie: Carla Simón - Drehbuch: Carla Simón - Kamera: Santiago Racaj - Schnitt: Didac Palou, Ana Pfaff - Musik: Pau Boïgues, Ernest Pipó - Darsteller: Laia Artigas, Bruna Cusí, David Verdaguer, Paula Robles - Format: DCP 96 Minuten - Verleih: Grandfilm, Muggenhofer Str. 132d, Bau 74, 90429 Nürnberg, Tel.:+49 0911 810 96 671, verleih@grandfilm.de, www.grandfilm.de - Preise: 67. Berlinale - Großer Preis der internationalen Jury Generation KPlus, 67. Berlinale - Preis für den besten Erstlingsfilm, Filmfestival Málaga 2017 - Bester Spielfilm, BAFICI 2017 - Beste Regie, 36. Filmfestival Istanbul 2017 - Spezialpreis der Jury, Goya - Spanischer Filmpreis 2018 - Beste Regienewcomerin, Bester Nebendarsteller, Beste Nachwuchsdarstellerin, Mumbai Film Festival 2017 - Bester Spielfilm, Odessa International Film Festival 2017 - Bester Spielfilm, Offizieller spanischer Beitrag für die Oscars 2018, Internationales Frauenfilmfestival Dortmund/Köln - Debüt-Spielfilmwettbewerb Award 2018 - Kinostart: 26. Juli 2018
Film des Monats Juli

Los Versos del Olvido -
Im Labyrinth der Erinnerung
92 Minuten
Schaufel um Schaufel fliegt die Erde aus dem Loch. Am offenen Grab auf einem alten Friedhof irgendwo in Südamerika. Ein greiser Friedhofsverwalter geht hier gemeinsam mit einem Totengräber seiner gemächlichen Arbeit nach. Diese scheint genauso anachronistisch zu sein, wie das labyrinthische Archiv, wo die Unterlagen über die Verstorbenen lagern, wie die von Hand ausgehobenen Gräber und das Gemüsebeet auf dem Friedhof. Würdevoll erzählt der Totengräber dem Verwalter, was er über den jeweilig zu Bestattenden in Erfahrung gebracht hat: Eine letzte Erinnerung gegen das Vergessen. Der Friedhofsverwalter nimmt die posthumen Angelegenheiten todernst. Auch wenn er selbst keinen einzigen Namen mehr weiß – nicht einmal seinen eigenen. Als Regime-Schergen eines Tages seine Leichenhalle in Beschlag nehmen, um dort hausgemachte Probleme zwischen zu lagern und dann eine Leiche zu viel zurückbleibt, sieht sich der eigentlich schon Pensionierte genötigt, eine letzte anständige Bestattung zu organisieren.
Der im Iran geborene Regisseur Alireza Khatami erzählt in seinem Film über eine Kultur des Vergessens und Verschweigens und über sanften Widerstand dagegen. Seine Geschichte trifft eine empfindliche Stelle vieler totalitärer Regime: ihre korrupte Erinnerungskultur. Sie lassen Unliebsames gerne Verschwinden und versuchen, sich schlechter Erinnerungen zu entledigen. Zwar wurde der Film in Südamerika gedreht, doch sein Thema ist auf viele Länder und Kulturen übertragbar. In surrealen Bildern und mit märchenhaften Zügen inszeniert Khatami den Friedhof und sein Personal als einen Mikrokosmos der Gelassenheit inmitten eines autoritären Regimes. IM LABYRINTH DER ERINNERUNG ist ein kritisches Sterbegedenken für eine Gesellschaft, die nicht mehr weiß, was sie vergessen hat. Und auch ein Denkzettel, dass in der Bewahrung von Erinnerungen Würde liegt. Selbst dann, wenn es keine schönen sind.
Film-Credits: Frankreich, Deutschland, Niederlande, Chile 2017 - Produzent: Vincent Wang, Fred Bellaïche, Dominique Welinski - Regieund Drehbuch: Alireza Khatami - Kamera: Antoine Héberlé - Schnitt: Florent Mangeot - Darsteller: Juan Margallo, Tomás del Estal, Manuel Morón, Itziar Aizpuru, Julio Jung, Gonzalo Robles, Amparo Noguera - Format: DCP 92 Minuten - Verleih: Sabcat Media; Ystader Str. 11, 10437 Berlin, Deutschland, Tel.:+49 179 41 31 434, info@sabcat.media, www.sabcat.media - Preise: Orizzonti (Bestes Drehbuch) – 74. Internationale Filmfestspiele Venedig; Interfilm-Preis – 74. Internationale Filmfestspiele Venedig; FIPRESCI-Preis – 74. Internationale Filmfestspiele Venedig; Preis der Jugendjury – Festival des 3 Continents Nantes 2017; Grand Prix – Bester Film – Human Rights Film Festival Genf 2017; TIFF – Official Selection – Toronto International Film Festival 2017; Publikumspreis "Forward Future" – Beijing International Film Festival 2018; CANVAS-Preis – Mooov Filmfestival Belgien 2018 - FSK: ab 0 - Kinostart: 12.07.2018
Film des Monats Juni

Camino a La Paz
86 Minuten
Sebastian ist ein moderner Taugenichts, Anfang 30, sympathisch, aber ohne einen genauen Plan, was er mit seinem Leben machen möchte. Durch einen Zufall wird er zum Taxifahrer, zufällig lernt er auch Jalil kennen. Jalil ist ein ernster, eher kauziger älterer Herr, ein gläubiger Muslim, der die Regeln seiner Religion befolgt, jedoch durchaus leger auslegt. Eines Tages fragt Jalil den jüngeren Mann, ob dieser ihn nach La Paz fahren könnte. Denn Jalil hat ein Ziel. Er will nach Mekka pilgern, zuvor jedoch in La Paz seinen Bruder abholen. Weil Sebastian Geld braucht, sagt er zu. So machen sich die beiden Männer auf die weite Autofahrt vom argentinischen Buenos Aires nach Bolivien, mit einem Dialysegerät im Gepäck und wechselnden Reisebegleitern. Bald erhalten sie Gesellschaft durch einen angefahrenen Hund, dann stößt zeitweilig eine junge Frau dazu. Staunend nimmt der säkulare Sebastian eines Abends gemeinsam mit Jalil an einer sufistischen Feier in einer muslimischen Gemeinde teil. Im Verlauf der Fahrt verlieren die Beiden sukzessive ihren Besitz und übernehmen, nachdem sie einige Krisen überstanden und die aus ihren Gegensätzen resultierenden Konflikte verhandelt haben, mehr und mehr Verantwortung für den anderen. Am Ziel der Reise scheinen beide innere Orientierung gefunden zu haben.
Das Taxi als Topos der kleinsten territorialen Einheit erhält in „Camino a La Paz“ eine unaufdringliche, plausible Variation. Unterschiedliche Lebensentwürfe begegnen sich hier kurzzeitig, intensiv und hinterlassen Spuren. In „Camino a La Paz“ wird der Roadmovie zur Pilgerfahrt. Ein Buddy-Movie als Bildungsroman. Der Film überzeugt durch seine lakonische, genau beobachtete und warmherzige Erzählweise. Dem argentinischen Regisseur Francisco Varone gelingt es, der Reisebeschreibung eine spirituelle Dimension abzugewinnen, ohne dass er irgendwelchen dramaturgischen Klischees folgt. Fast beiläufig zeichnet er dabei auch das Bild eines Kontinents der, genau wie sein junger Held, offenbar nicht so recht weiß, wo es hingehen soll und wird.
Film-Credits: Argentinien 2015 - Produzent: Gema Juárez Allen, Francisco Varone, Omar Jadur, Dolores Llosas, Juan Taratuto - Regie und Drehbuch: Francisco Varone - Kamera: Christian Cottet - Schnitt: Federico Peretti, Alberto Ponce - Musik: Vox Dei - Darsteller: Rodrigo De la Serna (Sebastian), Ernesto Suarez (Khalil), Elisa Carricajo (Jazmin) u.a. - Format: DCP 86 - Verleih: imFilm Agentur, Tel.: 040 431 97 137 , www.im-film.de - Kinostart: 07.06.2018
Film des Monats Mai

In den Gängen
125 Minuten
Der wortkarge, aber umgängliche Christian (Franz Rogowski) nimmt eine neue Arbeit auf: in einem Großmarkt wird er in der Getränkeabteilung eingeteilt. Bruno (Peter Kurth), den die anderen „Häuptling“ nennen, nimmt sich seiner an, wie ein väterlicher Freund. Christian lernt die Mechanik des Gabelstaplers kennen, und Bruno zeigt ihm geduldig, wie man vom obersten Regal Getränkekästen aufnimmt und schadlos transportiert und wie man die Regale befüllt. Der Großmarkt und seine Angestellten, das ist der Kosmos, der nun Christians Lebenswelt ausmacht. In den Gängen des Großmarkts trifft er auf Marion (Sandra Hüller), die für die Süßwarenabteilung zuständig ist. „Frischling“ nennt sie ihn, und lässt sich gern von Christian zu einem Kaffee aus dem Automaten einladen. Zwischen beiden entwickeln sich zarte Bande. Er solle gut mit ihr umgehen, rät Bruno, denn Marion leidet unter ihrem Ehemann. Wenn Christian abends Feierabend hat und auf den Bus wartet, der ihn nach Hause bringt, ist es bereits dunkel. An Weihnachten wartet er darauf, dass die Feiertage vorbeigehen, damit er wieder in seinen Arbeitsalltag kann. Als Marion für längere Zeit krankgeschrieben wird und nicht mehr zur Arbeit kommt, droht dies den genügsamen Christian aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Mit In den Gängen ist das Soziale auf höchst zeitgemäße Weise ins deutsche Kino zurückgekehrt. Der Film von Thomas Stuber, der auf einer Kurzgeschichte aus dem Band „Die Nacht, die Lichter“ von Clemens Meyer beruht, schildert die Lebenswirklichkeit von Menschen, die selten öffentliche Aufmerksamkeit erhalten. Mit sorgfältigen und feinen Federstrichen, die ebenso poetisch wirken wie sie nüchtern sind, zeigt der Film die sozialen Beziehungen zwischen Menschen in ihrer Arbeitswelt und macht dabei auch die Auswirkungen der Transformation in Ostdeutschland sichtbar. Ein lakonischer Film, der seine Protagonisten und deren routinemäßigen Arbeitsalltag so aufmerksam und bei aller Ernsthaftigkeit mit einem Funken Humor schildert, dass man inspiriert wird, genauer hinzuschauen.
Film-Credits: Deutschland 2018 - Produzent: Jochen Laube, Fabian Maubach - Regie: Thomas Stuber - Drehbuch: Clemens Meyer, Thomas Stuber - Kamera: Peter Matjasko - Schnitt: Kaya Inan - Darsteller: Franz Rogowski (Christian), Sandra Hüller (Marion), Peter Kurth (Bruno) u.a. - Format: DCP, Farbe 125 Min. - Verleih: Zorro Film GmbH, Astallerstr. 23, 80339 München, Tel.:+49 89 452 352 923, Fax: +49 89 452 352 911, info@zorrofilm.de, www.zorrofilm.de - Preise: Deutscher Drehbuchpreis 2015: Auszeichnung für Thomas Stuber und Clemens Meyer Auszeichnung als Bester Film im Wettbewerb der Berlinale mit dem Gilde-Filmpreis (Thomas Stuber) Auszeichnung mit dem Preis der Ökumenischen Jury (Thomas Stuber) Deutscher Filmpreis 2018: Auszeichnung für die Beste männliche Hauptrolle (Franz Rogowski) - FSK: ab 12 - Kinostart: 24. Mai 2018
Film des Monats April

Lady Bird
95 Minuten
Wie schwer sich Mütter und Töchter mit ihren Gefühlen füreinander tun, davon handelt Greta Gerwigs originelles und berührendes Regiedebüt. Lady Bird, so nennt sich die 17-jährige Protagonistin. Eigentlich heißt sie Christine, doch davon will sie nichts wissen. Selbst von ihrer Mutter verlangt sie, Lady Bird genannt zu werden. Lady Bird will fort aus Sacramento, der vermeintlich öden Stadt, obwohl sie hier Familie und Freunde hat, auf Partys geht und erste Liebeserfahrungen macht. New York ist ihr Ziel. Doch erst muss sie die Schule abschließen, und ihre schulischen Leistungen lassen nicht erkennen, dass sie ihren Traum vom teuren College an der Ostküste verwirklichen kann.
Das Soziale ist in diesem Coming-of-Age-Film stets präsent. Die Mutter ist Krankenschwester und ernährt die Familie allein, seit der Vater arbeitslos ist. Sie ist entnervt von der Tochter, von der sie glaubt, nichts sei ihr genug. In einer Szene suchen Mutter und Tochter ein Kleid für den Abiturball der Tochter. Lady Bird probiert ein rosafarbenes Ballkleid an. »Ich wünschte, du würdest mich mögen«, sagt die Tochter der Mutter. Worauf diese erwidert: »Ich will, dass du die beste Version deiner selbst wirst.« Darauf fragt die Tochter: »Was, wenn dies die beste Version ist?« Die Szene endet, ohne dass die beiden emotional zueinandergefunden hätten. Gerwig, die von sich sagt, sie interessiere sich dafür, welche Rolle Glaube und Traditionen im Leben von Menschen spielen, schildert differenziert das katholische Milieu der Schule, die Lady Bird besucht. Wir begegnen einer warmherzigen Oberin, die Lady Birds schauspielerisches Talent erkennt und herzhaft über einen Streich ihrer aufmüpfigen Schülerin lachen kann. Zum Grundmuster des Films passt es, dass Lady Bird, nachdem sie in New York angekommen ist und eine erste Krise überstanden hat, sich auf das ihr Vertraute besinnt. So ist Lady Bird auch ein Film über emotionale, spirituelle und geografische Heimat, die man erst als solche begreift, wenn man sie verlassen hat.
Film-Credits: USA 2017 - Produzent: Scott Rudin, Eli Bush, Evelyn O'Neill - Regie und Drehbuch: Greta Gerwig - Kamera: Sam Levy - Schnitt: Nick Houy - Musik: Jon Brion - Darsteller: Saoirse Ronan (Lady Bird), Laurie Metcalf (Marion), Paul Keller (Priester), Tracy Letts (Larry), Timothée Chalamet (Kyle) u.a. - Format: DCP, Farbe 95 Min. - Verleih: Universal Pictures International Germany GmbH; Postfach 710848, 60498 Frankfurt/Main, Tel.:+49 069 222 821 0, Fax: +49 069 666 65 09, info@universal-pictures-international-germany.de, www.universal-pictures.de - Preise: Golden Globe 2018 - Beste Komödie - FSK: ab 0 Jahre - Kinostart: 19. April 2018
Film des Monats März

Lucky
88 Minuten
In einem abgeschiedenen amerikanischen Wüstenstädtchen geht Lucky einem sehr geregelten Leben nach. Yoga-Übungen und ein Glas Milch am Morgen, Kaffee im Diner, Gameshows am Mittag, abends eine Bloody Mary in der Bar. Sein einziges echtes Laster sind die Zigaretten, eine Packung pro Tag. Aber die haben der Lunge des Neunzigjährigen nicht geschadet – er sei ein vollkommenes medizinisches Rätsel, meint der Doktor. Lucky hat ihn aufgesucht, weil er eines Morgens einfach umgefallen ist. Die Diagnose: Alter. Luckys Körper gibt langsam auf, seine Zeit läuft ab. Er hat keine Familie, um die er sich kümmern müsste, zu vererben gibt es nichts, er gehört keiner Kirche an, kurz: Für die Zeit "danach" hat er keinen Plan. Aber es gibt Menschen, die ihm zuhören, die sich kümmern – und die er plötzlich anders wahrnimmt.
Am Anfang verlässt Lucky sein Blockhaus, und man sieht ihn durch die geöffnete Tür, als Silhouette im Licht der Sonne. Das Bild erinnert an eine berühmte Einstellung aus John Fords Western "THE SEARCHERS", und die Ikonographie dieses Genres bestimmt den ganzen Film: die staubigen Hügel mit den Kakteen wie die Darstellung der kleinen Stadt mit ihren unkomplizierten nachbarschaftlichen Beziehungen. Das Drama des Films ist ein inneres – Lucky stirbt nicht, sondern muss sich mit dem Gedanken an den Tod vertraut machen. Dieser Prozess vollzieht sich in stimmungsvollen, ruhig gefilmten Vignetten: Gespräche mit Freunden und Zufallsbekanntschaften, in denen sich Lebensgeschichten und -philosophien entfalten. "LUCKY" kreist um die Frage, wie der Einzelne existenzielle Herausforderungen deutet, bewertet und meistert, und wie er mit der Endlichkeit des Lebens umgeht. Dass diese Reflexion nicht abstrakt, sondern berührend und unmittelbar wirkt, liegt auch an der melancholisch-gelassenen Präsenz von Harry Dean Stanton. Stanton, bekannt aus "PARIS, TEXAS", ist Ende letzten Jahres gestorben. Einen würdigeren Leinwandabschied als "LUCKY" kann man sich kaum vorstellen.
Film-Credits: USA 2017 - Produzent: Greg Gilreath, Adam Hendricks, John Lang u.a. - Regie: John Carroll Lynch - Drehbuch: Logan Sparks, Drago Sumonja - Kamera: Tim Suhrstedt - Schnitt: Slobodan Gajic - Darsteller: Harry Dean Stanton (Lucky), David Lynch (Howard), Ron Livingston (Bobby Lawrence) u.a. - Format: Farbe, DCP 88 Min. - Verleih: Alamode Film , Nymphenburger Str. 36, München Tel.:+49 089 179992-11, Fax: +49 089 179992-13, info@alamodefilm.de, www.alamodefilm.de - Preise: Preis der Ökumenischen Jury, Locarno 2017 - FSK: ab 0 - Kinostart: 8. März 2018
Film des Monats Februar

Three Billboards outside Ebbing, Missouri
115 Minuten
Ebbing ist ein fiktiver kleiner Ort. Aber er liegt in Missouri, ebenso wie Ferguson, die Stadt, die immer wieder in die Schlagzeilen gerät. Mildred Hayes mietet drei großformatige Werbeschilder an einer wenig befahrenen Landstraße. Irgendetwas in ihrem harten und bitteren Gesicht verrät schon zu Beginn, dass sie nicht auf Reklame für den Souvenir-Laden aus ist, in dem sie arbeitet. Vor sieben Monaten wurde ihre Tochter brutal ermordet. Die Ermittlungen sind ergebnislos geblieben. Mildred versucht mit ihrer Botschaft, die sie auf den drei Schildern anbringen lässt, die örtliche Polizei zur Arbeit zu zwingen.
Was auch den Plot für einen Standard-Rache-Thriller hergegeben hätte, geht gänzlich eigene Wege. Die Geschichte der drei Werbeschilder verbindet Mildred mit dem pragmatischen Polizeichef Willoughby und dem lupenreinen angry white male Polizist Dixon. In starken Dialogen greift der Film Themen wie Polizeigewalt, Rassismus und rape culture auf. Aber, ohne zu moralisieren. So wird der Polizeichef damit konfrontiert, dass die meisten seiner Mitarbeiter Rassisten sind. Seine Antwort: „Wenn alle rassistischen Polizisten die Polizei verlassen würden, dann wären nur noch drei übrig. Und die wären alle Schwulenhasser.“
Der irische Regisseur und Dramatiker Martin McDonagh entwirft mit solchen Sätzen ein Bild der amerikanischen Kleinstadt, das hart ist und über das man doch immer wieder lachen muss.
Die folgerichtige Entwicklung von Mildred und die weiter eskalierende Spirale von Gewalt und Gegengewalt erzeugen einen enormen Sog, dem man sich über die gesamte Laufzeit nicht entziehen kann. Von der grandiosen Einführung der Billboard-Botschaft in leuchtendem Orange, bis zu den drei unterschiedlichen Familienentwürfen der Figuren, bietet Three Billboards outside Ebbing, Missouri gelungene und nachdenklich stimmende Unterhaltung. Und am Ende lässt sich diskutieren, was am Ziel dieser schwarzhumorig-düsteren Reise auf die Figuren wartet.
Film-Credits: USA - Produzent: Graham Broadbent, Peter Czernin, Martin McDonagh - Regie: Martin McDonagh - Drehbuch: Martin McDonagh - Kamera: Ben Davis - Schnitt: John Gregory - Musik: Carter Burwell - Darsteller: Frances McDormand (Mildred Hayes), Woody Harrelson (Polizeichef Willoughby), Sam Rockwel (Officer Dixon)l, Peter Dinklage (James) u.a. - Format: - DCP, Farbe 115 Min. - Verleih: Fox - Twentieth Century Fox of Germany GmbH, Darmstädter Str. 114, 60598 Frankfurt am Main, Tel.:+49 069 60 90 20, Fax: +49 069 60 90 21 02, www.fox.de - Kinostart: 25. Januar 2018
Film des Monats Januar

Marlina - Die Mörderin in vier Akten
95 Minuten
Nach dem Tod von Mann und Sohn lebt Marlina alleine in einem Häuschen auf dem Land, zusammen mit zehn Kühen, zehn Ziegen, zehn Schafen und sieben Hühnern. Als alleinstehende Frau mit einem gewissen Wohlstand ist sie leichte Beute, denken sich Markus und seine siebenköpfige Männerbande: Sie stehlen das Vieh, lassen sich von Marlina bekochen und kündigen ihr großspurig an, sie in der Nacht einer nach dem anderen zu vergewaltigen. Was Marlina, wie wir aus dem Titel schon vorab erfahren, nicht einfach so zulassen wird.
In großen Bildern und mit kleinem Budget erzählt die 37 Jahre alte indonesische Regisseurin Mouly Surya die Geschichte weiblichen Widerstands gegen patriarchale Gewalt. Und zwar mit deutlichen Anleihen an das Western-Genre: Weite Landschaften, brutale Ganoven und eine wortkarge Heldin, die mit Entschlossenheit zuschlägt und dann in den Sonnenuntergang reitet. Das Genre passt gut zum Sujet, da es sich beim Kampf um die Integrität des weiblichen Körpers nach wie vor um ein Grenzgebiet handelt, eine Wildnis, in der der zivilisierende Arm des Gesetzes noch nicht etabliert ist. So lehnt, in einer Groteske der Indifferenz, auch die Polizei jede Verantwortung ab, sie ist nicht zuständig. Wenn Unbeteiligte helfen, so sind es meist Frauen.
Gerade weil die Western-Anleihen so deutlich sind, fallen die Abweichungen umso stärker ins Auge. So wird Marlina, anders als viele klassische Westernhelden, keineswegs zur Mörderin, um Rache zu üben. Es geht ihr nicht darum, erlittenes Unrecht zu sühnen oder gar einem abstrakten Prinzip namens Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Sie will nur unversehrt bleiben und nicht vergewaltigt werden. Und anders als bei ihren männlichen Pendants erwartet sie auch nicht das Schicksal eines einsamen Wolfs, der vom Leben in menschlichen Gemeinschaften ausgeschlossen ist. Ganz im Gegenteil: Ihr Kampf führt Marlina in die Gemeinschaft mit anderen, in eine Zukunft neuer und besserer Beziehungen.
Film-Credits: Indonesien 2017 - Produzent: Rama Adi, Fauzan Sidni, Cinesurya, C. Kaninga Pictures - Regie: Mouly Surya - Drehbuch: Mouly Surya, Rama Adi - Kamera: Yunus Pasolang - Schnitt: Kelvin Nugroho - Musik: Zeke Khaseli, Yudhi Arfani - Darsteller: Marsha Timothy (Marlina), Dea Panendra (Novi), Egi Fedly (Markus), Yago Pratama (Franz), Rita Matu Mona (Yohana) u.a. - Format: DCP, Farbe 95 Min. - Verleih: eksystent distribution, Parkstr. 18, 80339 München, Tel.:+49 89 23020651, Fax: +49 89 99 953 993, info@eksystent.com, www.eksystent.com - Kinostart: 18. Januar 2018
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